Die folgende Durchsage relativiert unser Verständnis von Raum und Zeit noch weiter:

4. Durchsage   06.02.2005 (Fastnacht-Sonntag), 5.06 Uhr

 

„Guten Morgen, Norbert. Wir haben noch ein paar Kleinigkeiten für dich, bevor wir dich wieder ins fastnachtliche Treiben entlassen können.“

„Ihr tut ja gerade so, als sei ich der Ober-Fastnachter.“

„Warum nicht, wenn du es wärest? Aber Spaß beiseite.“

 

Ich sehe ein schreckliches Bild: Skelette mit dunklen Gewändern wandern umher, wie in einem Alptraum. Sie schweben durch einen abgedunkelten Raum, schweben durcheinander, und sie haben richtige Gesichter, keine lediglich knöchernen Totenschädel. Hm. Was soll das bedeuten? Gut, Blei ist der Hüter der Schwelle, und diese hier symbolisieren offensichtlich das „Land“ jenseits der Schwelle. Sie sind schon gegangen oder sie wollen wiederkommen.

„Was bedeutet das: Sie sind schon gegangen oder sie wollen wiederkommen? Es ist eine zeitliche Vorstellung eines unzeitlichen Vorganges.

„Das verstehe ich nicht ganz. Der Vorgang des In- und Exkarnierens ist doch an Zeit gebunden. Danach, hinter dieser Schwelle beginnt eine Art von Zeitlosigkeit - obwohl ich die auch nicht ganz verstehe angesichts von Berichten über Erlebnisse von Menschen im ,Bardo‘, also in der Zeit zwischen zwei Inkarnationen.

 

All diese Berichte hängen lediglich von euren Glaubenssätzen ab. Glaubt ihr, dass es ein Bardo gibt - und glaubt es auch nur ein Fitzelchen eures Unterbewusstseins oder glaubt es euer Gegenüber und ihr klinkt euch in diesen Glauben akzeptierend ein! -, so werdet ihr euch an Erlebnisse im Bardo erinnern. Ob es das Bardo gibt und ob sich diese Erlebnisse so zugetragen haben - wer will das mit Bestimmtheit sagen?“

 

„Genauso gut können wir dann aber jede Erinnerung infrage stellen. Niemand, der sie nicht mit uns geteilt hat, kann die Wahrheit des erinnerten Ereignisses bestätigen.“

„Du hast völlig recht. Merkst du jetzt, wo die wirkliche Schwelle ist? Sie liegt immer eine Sekunde vor dir und eine Sekunde hinter dir - in der Zeit (und nicht räumlich), versteht sich.

 

Ich bin durchaus betroffen, muss ich sagen. Diese Ansicht entbehrt nicht einer gewissen Logik. Das würde in letzter Konsequenz bedeuten, dass der „Tod“ immer eine Sekunde vor uns und die „Geburt“ eine Sekunde hinter uns ist, wenn wir diese beiden Zustände als Überschreiten der „Schwelle“ bezeichnen.

Nochmals zur Erläuterung: Bewusst erleben können wir immer nur den gegenwärtigen Zeitpunkt. Alles, was von ihm aus Vergangenheit ist, ist Erinnerung. In ihr existiert ebenso wenig so etwas wie Zeit wie in der Zukunft vor uns – lediglich unser Bewusstsein stellt sich einen Zeitstrahl in die Vergangenheit und in die Zukunft vor. Tatsächlich existent ist jedoch lediglich der Augenblick der Gegenwart.

 

„Gut, du verstehst uns!“, freuen sich die Atlanter. „Was aber seid ihr, wenn ihr offensichtlich nur in der Gegenwart existiert? Und was ist die Gegenwart? Und - noch viel wichtiger: Was ist die Zeit, wenn es sie gar nicht gibt? Der Raum, dessen Existenz mit ihr ebenfalls untergeht?“

Ja jetzt wird 's aber ganz verrückt hier. Das ist ja schlimmer als an Fastnacht! Nur nicht so witzig.

 

Die Atlanter fahren unbeirrt fort: „Ihr habt immer viel Energie auf Versuche aufgewendet, euch diese Wahrheiten zu verschleiern, unbewusst zu machen. Denn es lebt sich nicht so schön ein Leben lang immer eine Sekunde vor dem Tod, sozusagen. Woher weißt du, dass er nicht in der nächsten Sekunde dein Bewusstsein auslöscht? Niemand kann das sagen.

Du kannst sagen: ‚Nun ja, die Wahrscheinlichkeit, dass in meinem Alter mein Herz gleich jetzt stehen bleibt, ist reichlich gering.‘ Auch die Wahrscheinlichkeit eines schrecklichen, tödlichen Unglücks in der nächsten Sekunde ist gering - dennoch ereilt sie manchmal einige, manchmal viele Menschen gleichzeitig, siehe Tsunami.“

 

An Weihnachten 2004 hatte eine solche riesige Welle nach einem Seebeben im Indischen Ozean über 200.000 Menschen in kürzester Zeit in den Tod gerissen. Buchstäblich von einer Sekunde zur anderen.

Ich bin etwas ratlos jetzt. Auf was wollen die Atlanter hinaus? Wie soll man sagen, was die Zeit ist, wenn sie offensichtlich überhaupt nicht existiert?

 

„In eurem Bewusstsein existiert sie doch, ganz offensichtlich.“

Und sie ist genauso offensichtlich an das Phänomen Erinnerung geknüpft. Ohne Erinnerung gibt es keine Zeit. Obwohl - die Uhr läuft auch ohne Erinnerung immer so vor sich hin. Müsste die Zeit dann nicht eine gewisse Existenz unabhängig von einem Bewusstsein besitzen, überlege ich.

„Das ist hier nicht die Frage.

Die Frage ist: Was ist Zeit für dich, als menschliches Individuum?! Für euch, als Kollektiv.

Und: Welche Aufgabe hat Plumbum als Hüter dieser Schwelle wirklich?“

 

Ich sehe ihn in diesem Moment als Fährmann an dem Fluss, der in der Mythologie die Welt der Lebenden von der Unterwelt, der Totenwelt, trennt.

„Es ist ein schönes Bild, nicht?“, meinen die Atlanter.

Ich stehe trotzdem auf dem Schlauch.

Sie fragen weiter: „Blei - was ist das? Ein Metall von sprichwörtlichem Gewicht. Gravitation ist eng an die Existenz von Raumzeit gebunden. Ohne Gravitation keine Raumzeit, könntest du sagen.

Und: Veränderungen der Gravitation - durch Beschleunigung eines Objektes - haben gravierende Veränderungen auf den für dieses Objekt geltenden Raum und die für diesen Raum geltende Zeit. Du kennst dieses Experiment der beiden Uhren, von denen eine sich sehr schnell bewegt an Bord eines Flugzeuges, die andere bewegt sich ein wenig langsamer - wir meinen, mit der Erde durch das All.“

 

Daran hätte ich jetzt gar nicht gedacht. Wir sind ja alle immerzu mit rasender Geschwindigkeit unterwegs durch das All, auf diesem Planeten. Das ist uns ja normalerweise nie bewusst.

„So ist es. Dabei ist dies eine entscheidende Größe, was euer Bewusstsein betrifft.“

„Wollt ihr damit sagen, unser Bewusstsein sei an diese Bewegung gebunden? Wenn wir im Raum stillstehen könnten, würde dieses Bewusstsein sich verändern?“

„Du bist auf der Erde geboren und wirst immer ein Teil von ihr bleiben. Die ,innere Uhr‘ der Erde wird immer in dir schlagen, wie dein Herz.“

„Das heißt, unser Zeitempfinden haben wir sozusagen von der Erde geerbt, weil unser Körper aus ihrer Materie gemacht ist? Wir koppeln uns damit räumlich an sie an oder in sie hinein oder sie in uns und damit auch an die Zeit der Erde?“

„So ist es. Das ist die Schwelle, die ihr eines Tages überschreitet (beim Inkarnieren) und eines Tages wieder - wenn eure Seele diesen Körper verlässt. Dann verlässt sie auch wieder die Raumzeit der Erde.“

 

Ich bin platt. Diesen Zusammenhang hätte ich nicht als so essenziell eingeschätzt.

„Da kannst du mal sehen. Du kannst daran vor allem sehen, dass du das gar nicht anders einschätzen kannst, da du nicht von außen auf diese Phänomene blicken kannst. Wenn du aber in einem Auto drinsitzt, kannst du auch nicht sagen, wie es von außen aussieht. Du kannst nur sagen: Es ist ein Objekt, das sich unter bestimmten Voraussetzungen mit wählbarer Geschwindigkeit von hier nach da bewegen kann, und ich mit ihm. Du kannst von innen noch nicht mal die Räder sehen, die ihm das allein ermöglichen. Übrigens, ist ein Rad nicht ein schönes Symbol für Ewigkeit?“

„Und was ist Ewigkeit?“

„Schau das Rad an, dann weißt du es.”

„Die sich immer wiederholende Abfolge von Zeitabschnitten?“

„Aber wo ist Anfang und Ende einer Radumdrehung? Ist sie nicht willkürlich festgelegt vom Betrachter - und entsteht damit wiederum lediglich in seinem Bewusstsein? Die Ewigkeit ist immer um euch herum - immer eine Sekunde vor euch und eine Sekunde nach euch, sozusagen.“

„Und wir sind ein sich drehendes Rad auf der Straße der Ewigkeit, sozusagen.“

„Der Vergleich ist nicht schlecht und war jetzt naheliegend, nicht?“

„Ja.“ Weiß ich ja selbst, dass ich nicht alleine draufgekommen wäre!

„Sei nicht so trotzig. Sei lieber froh, dass du den Hüter der Schwelle heute endlich mal - wenn auch indirekt - kennen und einschätzen lernst. Doch welche Konsequenzen hat das eigentlich für dich?

„Ich weiß nicht“, gebe ich nach einigem Nachdenken zu.

„Du weißt nicht“, wiederholen sie mit einem entrüsteten Tonfall, als hätten sie etwas anderes erwartet.

„Dann musst du noch ein bisschen leben und erfahren, und dann unterhalten wir uns wieder.“

 

Hm, dann muss ich doch noch mal nachdenken. Wir bewegen uns demnach in einer Welt von Wahrscheinlichkeiten, die wir uns selbst aufbauen. Wir sagen: Wahrscheinlich wird es besser für uns sein, in einen Haus zu leben, es schützt uns vor der Umwelt, dem Wetter etc. Kann auch mal sein, es begräbt uns unter sich, wenn es einstürzt. Aber die Erfahrung zeigt doch, dass wir es in der Regel riskieren können.

Die Erfahrung zeigt auch, dass ein bestimmtes Handeln bestimmte Konsequenzen nach sich ziehen wird.

 

Die Wichtigkeit der Glaubenssätze wird mir noch einmal sehr bewusst bei diesen Gedanken, denn Erfahrung ist ja nichts anderes. Wir verwenden Jahre unseres Lebens damit, Erfahrungen und Glaubenssätze eingebläut zu bekommen. Dann verbringen wir wieder Jahre damit, diese zu relativieren, um nicht von ihnen eingeschränkt zu werden - manche von uns jedenfalls.

„Das ist ein Überschreiten der Schwelle. Der Schwelle, die manche vor euch gelegt haben, gesetzt haben, sozusagen.

Das waren all die Forscher, all die Religionslehrer, alle eure Lehrer, ob groß, ob klein.

Sie haben streng darüber gewacht, dass ihr diese Grenzen verinnerlicht. Sie haben darüber gewacht, dass ihr sie erst mit dem Tod wieder überschreitet.

Forschen ist, Grenzen zu definieren und auch wieder zu verwerfen. Ständig.

Dogmatismus ist, Grenzen zu definieren, die nicht mehr überschritten werden dürfen - noch können, wenn sie als Glaubenssätze verinnerlicht wurden.

Hüter der Schwelle - das sind die Gralshüter des Glaubens, und die anderen, die diese Grenzen aufgebaut haben, weil sie sie als Forscher zu erkennen glaubten. Wer diese Grenzen sprengen will, wird zunächst einmal daran gehindert, ganz klar. Er müsste ja auch verrückt sein, nicht?“, spotten sie zweideutig.

 

„Dabei sind es offensichtlich alles mehr oder weniger willkürliche Grenzen“, meine ich.

„Sagen wir, sie sind teilweise durchaus vorhanden - sofern sie Konstanten eurer Erde sind, auf der ihr euch bewegt. Oder Konstanten anderer Himmelskörper.“

„Aber auch das ist lediglich Raum, und der existiert auch nur in unserem Bewusstsein.“

 

„Du hast schon viel gelernt, und doch hast du es noch nicht wirklich verstanden.“

Ich komme mir vor wie ein Schüler, der einen Satz einfach nachgeplappert hat, ohne seine Bedeutung in der Tiefe wirklich erfasst zu haben.

„Genauso ist es, ohne dir zu nahe treten zu wollen. Aber gut, du bist wieder einen Schritt weitergekommen. Du hast die Grenzen klar erkannt - das ist der erste wichtige Schritt, um sie überschreiten zu können.“

„Dafür habe ich also jetzt doch noch ein bisschen Prüfzeit übrig.“

„Wir haben dir das bereits vorhin nahegelegt.“

„Ja, ja, ist ja gut. Gibt 's sonst noch was?“

„Wir haben auch dem, was wir sinngemäß zu dieser Frage vorhin sagten, nichts hinzuzufügen. Erlebe es bewusst, was es bedeutet, in dieser Raumzeit gefangen zu sein. Schau ihn an, den Hüter der Schwelle, den großen Saturn. Schau ihn dir an, und dann geh über ihn hinaus, wenn du willst. Dann treffen wir uns wieder. Bis dann. Tschüss. Und helau...“

 

„Tuff tää, Tuff tää, Tuff tää. Oh je, da steht mir noch was bevor. Vielen Dank, bis dann. Tschüss.”

6.00 Uhr